März 2021:

„Ich bin den ganzen Tag mit nichts anderem mehr beschäftigt, als Material zu beschaffen. Ich kaufe nicht mehr ein, ich beschaffe nur noch.“ (Einkäufer, 1st-tier)

„Ich habe nicht mal Zeit, um mich auch nur eine Stunde mit etwas anderem als meiner Versorgungssicherheit zu beschäftigen und jetzt hat auch noch mein Stammlieferant 6.000to Material im Monat abgekündigt.“ (Geschäftsführer, Materialhändler und –produzent)

„Wenn es dumm läuft, dann reißen mir kommende Woche erste Versorgungsketten ab, da unsere Lieferanten einfach kein Material mehr bekommen, trotz unserer Unterstützung.“ (Einkäuferin, Automotive OEM)

---

War die Industrie vor gut einem Jahr noch in weltweiter Schockstarre angesichts eines neuen Virus mit unbekannten Auswirkungen, so würde dieser Wirtschaftsmotor inzwischen wieder gerne mit lautem Gebrüll röhren und vor Energie strotzen, doch er kann nicht – nicht zuletzt dank mangelnden „Treibstoffs“ in Form von Rohmaterial.

Aber was ist eigentlich genau passiert? Was können wir daraus lernen? Und wie wird sich die Kreislaufwirtschaft darauf auswirken? Dieses Essay soll  Impulse dazu liefern.

Die Corona-Krise hat zu Anfang 2020 schlicht Angst, Sorge, Leid und vor allem Unsicherheit verursacht. Niemand konnte sagen, wie aggressiv  das Virus sein würde, wie schnell  es sich verbreiten würde. Apokalyptische Szenarien von Quarantäne- und No-Go-Zonen wurden Realität. Ein ungeahntes Ausmaß staatlicher Eingriffe wurde notwendig. Weltweit.

Der Markt, die Bevölkerung, konnte nur durch surreal erscheinende Einschränkungen jahrzehntelang erarbeiteter Freiräume und auch Entscheidungsräume geschützt werden. Und gleichzeitig hatte man bewusst und mangels Alternativen das gesellschaftliche und nicht für die Gesundheit oder Versorgungnotwendige industrielle Leben abgewürgt. Die Industrie wurde gezielt und prompt annähernd auf Null gefahren. Kontakte vermeiden lautete und lautet noch immer die Devise. Damit einher ging eine bis heute andauernde Einschränkung der Mobilität bzw. wurden hohe und unangenehme Hürden errichtet.

Was sind die Effekte eines solch dramatischen Eingriffs? VUCA par excellence.

Die Industrie reagierte in vielen Bereichen im Überlebensmodus. Bestände bei Bauteilproduzenten wurden aufgebraucht, um die Cash-Situation in den Unternehmen zu sichern. Die Kunststoffmaterialproduzenten konnten ihre großindustriellen Prozesse nicht so schnell stoppen und saßen auf großen Mengen an Material, was zu einem Preisverfall führte. Um die die Unternehmensergebnisse dennoch zu sichern, wurden unter anderem Wartungen und Instandhaltungen vermieden, also alle im Moment nicht akut notwendigen Kosten und Investitionen. Der Preisverfall von Neuware wiederum wirkte sich auf die Nachfrage an Rezyklaten aus, welche bislang hauptsächlich aus Kostengründen (günstiger als Neuware) eingesetzt wurden. Dadurch kämpften einige Recycler bis zum dritten Quartal 2020 sogar um ihr Überleben.

Diese Situation entspannte sich zum Ende des dritten Quartals 2020. Dort bereits konnte man eine sich belebende Nachfrage erkennen, wenn auch noch zaghaft. Im Vierten Quartal 2020 allerdings waren die Lager leer, die Industrie brummte bereits wieder und damit entstand der erste „Überschwingereffekt“ – Lager mussten zusätzlich zu einem gestiegenen Produktionsbedarf gefüllt werden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt rächten sich die hinausgezögerten Wartungen der Kunststofferzeuger, welche nun mitten in diesem Nachfrageboom durchgeführt werden mussten und müssen, wodurch es zu einer zusätzlichen Verknappung von Material via Force Majeur kommt.

Damit noch nicht genug. Nachdem China als größter Kunststoffproduzent der Welt, aber eben auch größter Kunststoffverbraucher der Welt, wirtschaftlich am schnellsten aus der Krise herausgekommen war, wurden die vorhandenen Kapazitäten schnell durch die lokalen Bedarfe absorbiert. Die nun wieder angesprungene Nachfrage in Europa trifft nun plötzlich auf zum Teil bereits belegte Kapazitäten mit entsprechenden Auswirkungen auf die Preisstellung.

Zusätzlich haben die Verwerfungen auch zu Ungleichgewichten in den internationalen Logistik-Ketten geführt. So kostet ein 40-Fuß-Container aus Asien aktuell das 2,5-3fache als noch vor Beginn der Krise. Dabei sind selbstverständlich unkalkulierbare Sondereffekte, wie die Blockade des Suezkanals durch ein havariertes Containerschiff noch nicht berücksichtigt. Da ein Teil der Grundmaterialien für die europäische Kunststoffproduktion jedoch aus Asien und dem mittleren Osten kommt, kam es in den letzten Wochen zu einem zusätzlichen Preisanstieg der bereits verteuerten und verknappten Zulieferwaren

All diese Faktoren summieren sich aktuell und führen zu ungeahnten Preissteigerungen innerhalb weniger Monate, von z.T. über einhundert Prozent.

Auf polymore.com erleben wir diese Marktentwicklungen unmittelbar und versuchen darauf zu reagieren. So haben wir unser Netzwerk um zahlreiche Materialhändler und auch den ein oder anderen Distributor erweitert. Die aktuelle Nachfragesituation gibt uns Recht und der Anteil der Anfragen  für spezifische Handelsmarken und Neuwaren hat sich deutlich erhöht. Aber auch in unserem Zuliefernetzwerk sehen wir eine akute Materialknappheit. Selbst bei äußerst interessanten Anfragen, für welche wir noch vor wenigen Monaten acht bis zehn Angebote erhalten sollten, bekommen wir im Moment nur ein bis zwei Angebote und auch das nicht gesichert.

 

Wie sehen die Prognosen aus?

Im Moment geht der Markt von einer Beruhigung der Transportwege bis Mitte des Jahres aus, wobei von einem weiterhin 15-20% erhöhtem Niveau im Vergleich zu Anfang 2020 zu rechnen ist. Die großen Wartungsarbeiten der Materialproduzenten sollten ebenfalls in Kürze abgeschlossen sein.

Weiterhin kritisch dürfte sich die Versorgung mit Vorprodukten aus Asien gestalten. Abhängig von dieser Versorgungssituation können wir davon ausgehen, dass bis zum 3., eventuell 4.Quartal 2021 die Lager der Unternehmen wieder mit den notwendigen Sicherheitsbeständen gefüllt sein dürften. Dies wird zu einer vorsichtigen Reduzierung der Unsicherheit führen, wodurch das Working Capital wieder stärkeres Gewicht gewinnen und sich die Nachfrage temporär durch die leichte Reduzierung der Bestände etwas regulieren dürfte. So lange allerdings können wir weiterhin mit sehr  angespannten Märkten rechnen.

 

Was kann die Kreislaufwirtschaft beitragen?

In vielen Gesprächen begegnet uns das Argument, dass die Kreislaufwirtschaft eine deutliche Erleichterung mit sich bringen würde, schließlich stellt Kunststoffrecycling eine lokale Rohmaterialquelle dar. Dieses Argument ist in sich stimmig und richtig. Allerdings wird dadurch weder eine kurzfristige Entspannung erreicht, noch die Volatilität in der Zulieferkette verringert werden.

Viele Politiker, aber auch viele Akteure in der Kunststoffindustrie haben den Eindruck, dass man nur den Rohstoff Erdöl durch den Rohstoff Kunststoff-Wertstoff austauscht und ggf. Auswirkungen auf die Kostensituation verzeichnet. Allerdings verlangt uns die Kreislaufwirtschaft ein völlig anderes Denken ab. Die Volatilität wird bleiben, wenn auch in anderer Art und Weise. Im Gegensatz zu Erdöl ist die Zusammensetzung von privaten Kunststoff-Wertstoffen regional und saisonal unterschiedlich. Ebenso greifen immer mehr Spieler auf die gleichen Mengen an idealerweise gutsortiertem Wertstoff zurück, wodurch sich der Recycling-Markt zu einem Verkäufermarkt mit seinen typischen Markteffekten entwickeln wird.

Zusätzlich zur allgemeinen Versorgungsvolatilität fordert uns die Kreislaufwirtschaft auch im Hinblick auf die systemische Anpassung aktueller Qualitätssysteme. Die heutige Qualitätssicherung ist häufig auf Parameterstabilität und damit Inflexibilität ausgelegt. Ist ein Prozess einmal eingefahren, so darf er vielfach nicht mehr angepasst werden. Allerdings ist dies bei stärker schwankenden Eigenschaften des Zukaufmaterials nicht mehr so einfach möglich.

 

Und wie sieht die Lösung aus?

Wir müssen uns von dem Paradigma der ständigen Optimierung, Ausdünnung und Verstarrung unserer Produktionssysteme lösen. Sie müssen auf Flexibilität und VUCA ausgelegt sein. Technische Anlagen, Messgrößen und Qualitätssicherungslogiken müssen überdacht werden. Aber nicht nur wie heute in Bezug auf Versorgung, sondern auch in Bezug auf Materialeigenschaften. Außerdem benötigen wir digitale Transparenz über Prozessparameter und Materialeigenschaften bei der Materialherstellung und Verarbeitung.

Produktionssysteme müssen in Zukunft in der Lage sein, Schwankungen in Materialeigenschaften frühzeitig in jedem einzelnen Prozessschritt zu erkennen und/oder diese Informationen mit digitalen Zwillingen zu dem jeweiligen Materialproduktionslos abzugleichen.

Aus diesem Grunde arbeiten bereits alle großen Materialhersteller seit einiger Zeit an Technologien, diese digitalen Zwillinge zur Verfügung zu stellen. Allerdings sprechen wir häufig noch von stabilen Materialdatenblättern, die bereits heute schon im Grundsatz, in Zukunft aber auch in anderen Formaten abrufbar sein werden. Spezifische, dynamische Materialzwillinge werden in Zukunft vielmehr wichtig sein, um Produktionslosen die operativen Schwankungen mitzugeben, denn mit einemschwankenden Eingangswertstoff wird auch eine Schwankung im Prozess bzw. den Materialeigenschaften nicht ausbleiben.

Auch Maschinen- und Anlagenhersteller werden hierdurch gefordert sein, passende Lösungen zur Verarbeitung dieser Daten bereitzustellen. Durch diese muss die Flexibilität geschaffen werden, mit den genannten Schwankungen umzugehen und eine bessere Bauteilqualität zu gewährleisten. Somit würde ein wichtiger Beitrag zum Upcycling geleistet.

Selbst OEMs müssen ihre Qualitätssicherungslogiken und ihre Vorgaben überdenken. Heute werden zum Beispiel Produktionsprozessparameter beim Einfahren eines neuen Bauteils starr festgehalten und dürfen nicht mehr angepasst werden. Wie soll dies breitflächig im Bereich Recycling möglich sein, außer ggf. mit dem in Sachen CO2 Fußabdruck in der Kritik stehendem chemischen Recycling? Um mechanisches Recycling und damit den aktuellen Stand der Technik zu fördern, müssen die Kunststoffbauteilparameter definiert, gleichzeitig aber die Prozessparameter mit Schwankungsbreiten flexibilisiert werden. Damit schafft man die notwendigen Voraussetzungen für den Umgang mit den unterschiedlichen Materialparametern der Recyclingwertstoffe.

Und damit sind wir bei einem grundsätzlichen Umdenken – weg von Starrheit, hin zum kontrollierten Umgang mit Flexibilität in Bezug auf Materialeigenschaften entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Und das auf Basis der realen Schwankungen im Kunststoff-Wertstoff als feed-in.

Gerade für die Kunststoffindustriesteckt in diesem „New Normal“ eine große Chance, sich durch Innovationen und gute, vernetzte Lösungen einen neuen Technologiesprung zu erarbeiten. Gleichzeitig würden die Lieferketten auch resilienter, als wir sie aktuell erleben.

 

Zusammengefasst: VUCA wird auch nach der aktuellen Materialkrise bleiben, nur eben anders. Und genau darin liegt die Chance für Innovationen und den nächsten Technologielevel.